medstra-News 23/2019
Am 16. und 17. April verhandelte der Zweite Senat des BVerfG anlässlich von sechs Verfassungsbeschwerden über die Verfassungsgemäßheit des § 217 StGB. Beschwerdeführer waren sowohl Sterbehilfevereine (Dignitas und der Verein Sterbehilfe Deutschland), als auch schwer kranke Betroffene sowie zahlreiche Ärzte, insbesondere Palliativmediziner. Prof. Dr. Masing, Richter des Ersten Senats, ersetzte den wegen Befangenheit ausgeschlossenen Bundesverfassungsrichter Müller. Nachdem die ersten Verfassungsbeschwerden gegen das am 10.12.2015 in Kraft getretene Gesetz bereits vor über drei Jahren eingereicht wurden und angesichts der Länge des Verfahrens einige der Beschwerdeführer bereits verstorben sind, war die Terminierung der Verhandlung (vom Urteil nicht zu sprechen) in der Fachwelt bereits seit Langem erwartet worden.
Entsprechend der Bedeutung und des Umfangs des Verfahrens und der heftig geführten Diskussion sowohl über rechtliche also auch empirische und ethische Fragen nahm sich der Senat zwei volle Verhandlungstage Zeit, insbesondere empirische Fragen ausführlich zu klären. Bis zum Mittag des zweiten Verhandlungstages widmete sich das Gericht ausschließlich dem Realbereich, insbesondere den Strukturen von Sterbehilfeorganisationen, den Voraussetzungen und Feststellungen von Freiverantwortlichkeit, der Suizidforschung, den pharmakologischen Grundlagen der Sterbehilfe und der Palliativmedizin in Deutschland. Hierzu hörte das Gericht zahlreiche Sachverständige an. Auffallend hierbei war der sehr umfassende Ansatz des Senats, der nicht nur den zur Debatte stehenden Paragraphen selbst in den Blick nahm, sondern auch damit verbundene Themenkomplexe wie die Verfügbarkeit von todbringenden Medikamenten zu beleuchten suchte. Klar im Fokus stand einerseits die Freiverantwortlichkeit von Suiziden: Der Senat zeigte sich sehr interessiert an möglichen Kriterien von Freiverantwortlichkeit und Verfahren zu deren Feststellung. Auch Gründe und Auswirkungen von Suiziden sowohl aus Sicht der beiden Beschwerde führenden Sterbehilfevereine als auch aus Sicht mehrerer Sachverständiger wurden erläutert. Ein häufig wiederkehrendes Thema war dabei der als „Notausgang“ betitelte Effekt, dass bereits die Möglichkeit, assistierten Suizid in Anspruch nehmen zu können, Menschen in besonders schweren und belastenden Phasen einer Krankheit helfen könne, diese Phase durchzuhalten. Andererseits nahm der Senat auch rechtliche und faktische Begrenzungen von Suizidmöglichkeiten außerhalb von § 217 StGB in den Blick, insbesondere die Verfügbarkeit von Medikamenten wie Natrium-Pentobarbital sowie Berufsstandsregelungen des Arzt- und Apothekerwesens.
Insbesondere am zweiten Verhandlungstag beschäftigte den Senat, ob beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen andere Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der Entscheidung gestellt würden als beim Suizid, und wo die Unterschiede zum freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit lägen. Gerade den Richter Masing schien die Frage besonders zu bewegen, ob nicht auch die Entscheidung, sich nicht informieren zu wollen, schützenswert sei. Der Präsident des BVerfG Voßkuhle betonte mehrmals, dass sich die Entwicklung in den letzten Jahren insgesamt mehr in Richtung Wahrung der Autonomie entwickelt habe, gerade im Arzt-Patienten-Verhältnis, und stellte die Frage, ob man diese Entwicklung nicht „weiterdenken“ müsse.
Den originär rechtlichen Teil der Verhandlung begann der Senat mit der Frage, ob es ein von der Verfassung geschütztes Recht auf selbstbestimmtes Sterben gebe. Da sich alle Beteiligten über das Bestehen eines solchen Rechts einig waren, wurde in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit dessen genaue Verortung nicht mehr diskutiert. Etwas ausführlicher schließlich wurde die Bestimmtheit des § 217 StGB, insbesondere des Merkmals der Geschäftsmäßigkeit, diskutiert. Prof. Dr. Steffen Augsberg, Bevollmächtigter des Deutschen Bundestages, gab als Grund für die bestehende Rechtsunsicherheit – die im Übrigen von den als Sachverständige gehörten Palliativmedizinern nicht als solche empfunden wurde – vor allem die extensive Auslegung durch die Mehrheit der Strafrechtler an und betonte, dass der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit nicht unter den Begriff des Suizids falle und daher auch nicht von § 217 StGB erfasst sei. Ob sich der Mediziner, der sich im Einzelfall dazu entschließt, einem Patienten beim Suizid zu assistieren, strafbar mache, wenn er dies in einem weiteren, gleich gelagerten Einzelfall wieder tun würde, war hierbei die zentrale Frage. BVRin Kessal-Wulf äußerte zudem Besorgnis darüber, dass das Aussageverhalten bei dieser Norm einen besonderen Einfluss auf Ermittlungsverfahren und Strafbarkeit haben könne.
Am detailliertesten schließlich wurde die Verhältnismäßigkeit der Norm in den Blick genommen. Als legitimes Ziel der Norm stellte der Abgeordnete Brand die Verhinderung der Normalität von Suiziden und den Autonomieschutz sensibler Gruppen in den Vordergrund, wobei er sich ausführlichen Fragen der Richterbank stellen musste. Die Richter Voßkuhle und Masing betonten, dass auch eine Normalisierung von Suiziden Ausdruck der Verwirklichung grundrechtlich geschützten Verhaltens sein könne; insbesondere könne aus der steigenden Suizidrate in Nachbarländern mit liberaleren Regelungen nicht auf fehlende Freiverantwortlichkeit der Suizidenten geschlossen werden. Mehrfach wurde von den Richtern die Befürchtung geäußert, der Gesetzgeber habe das Recht auf Suizid nicht wirklich anerkennen wollen beziehungsweise dieses „tabuisieren“ wollen. Auffallend war auch, dass der Senat offenbar davon ausging, dass durch § 217 StGB das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben entleert werde. Voßkuhle betonte, dass die grundrechtliche Gefährdungslage spezifisch in Bezug auf die Modalität betrachtet werden müsse und die Suizidmodalität prägend für die Freiheitwahrnehmung sei. Zur Rechtfertigung einer „Entleerung“ dieses Rechts bedürfe es eines „überragend wichtigen Gutes“.
Voßkuhle betonte bereits in seinen einführenden Worten zur Verhandlung, was für ein „hochemotionales und seit jeher kontrovers behandeltes Thema“ Sterbehilfe sei, und dass das Recht hierzu nicht schweigen dürfe. Die umfassende Annäherung des Senats an das Thema lässt jedenfalls auf ein grundlegendes Urteil hoffen, das Ausstrahlungswirkung über § 217 StGB hinaus entfalten könnte.
Der Bericht beruht auf den Wahrnehmungen der Redaktionsassistentin der medstra, Wiss. Mit. Jessica Krüger, Bucerius Law School, Hamburg.