medstra-News 39/2022 vom 3.5.2022
Das US-Magazin „Politico“ hat ein vorläufiges Mehrheits-Votum des US-amerikanischen obersten Gerichtshofes veröffentlicht, laut dem das Gericht den umstrittenen Präzedenzfall „Roe vs. Wade“ aufheben wird. In diesem Urteil wurde 1973 ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Abtreibung anerkannt. Nach Ansicht der Richter, die das Mehrheitsvotum stützen, enthält die Verfassung der Vereinigten Staaten weder ein explizites noch ein implizites Recht auf Abtreibung. Die Richter beschreiben „Roe vs. Wade“ als „unerhört falsches“ Urteil (“egregiously wrong“) mit einer „außergewöhnlich schwachen“ Begründung und „schädlichen Konsequenzen“. Das Thema Abtreibung müsse wieder in die Hände des demokratisch gewählten Gesetzgebers übergeben werden (S. 6 des Votums).
In ihrem über 60 Seiten langen Votum beziehen sich die Richter unter anderem auf die Jahrhunderte alte Geschichte des anglo-amerikanischen Rechts, das seit jeher das Verbot von Abtreibung vorgesehen habe. Sie setzen sich ausführlich mit den Gründen auseinander, die im Fall von Roe v. Wade ein ausnahmsweises Abweichen vom Grundsatz des stare decisis, i.e. des Aufrechterhaltens von Präzedenzfällen, rechtfertigen. Zudem betonen sie, dass Roe v. Wade keineswegs den friedensstiftenden Effekt gehabt habe, auf den die damaligen Richter gesetzt hätten, sondern das Gegenteil bewirkt habe.
Eigentlicher Gegenstand des hier zu entscheidenden Verfahrens ist ein Gesetz des Bundesstaates Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet, wenn nicht ein medizinischer Notfall oder eine erhebliche Fehlbildung des Fötus vorliegt. Dieses Gesetz sei nach den oben erläuterten Grundsätzen verfassungsgemäß.
Bei dem von Politico geleakten Dokument handelt es sich um den ersten Entwurf des Mehrheitsvotums, das auf den 10.2.2022 datiert ist, und von dem konservativen Richter Samuel Alito verfasst wurde sowie nach Angaben des Magazins von vier weiteren konservativen Richtern – Clarence Thomas, Neil Gorsuch, Brett Kavanough und Amy Coney Barrett – unterstützt wird. Üblicherweise werden derartige Entwürfe noch mehrfach überarbeitet; verbindlich ist ausschließlich das finale Urteil, das in den nächsten zwei Monaten erwartet wird.
Bereits die Veröffentlichung eines solchen Entwurfs vor der Verkündung des Urteils ist allerdings einmalig in der jüngeren Geschichte des Gerichts. Es wird erwartet, dass bereits die Veröffentlichung des Entwurfs die heftigen Debatten um das Thema Abtreibung weiter anheizen wird.