medstra-News 90/2022 vom 16.8.2022
Mit einem aufsehenerregenden Beschluss v. 28.6.2022 (6 StR 68/21), veröffentlicht am 11.8.2022, hat der BGH die Grenzen zwischen strafloser Beihilfe zum Suizid und strafbarer Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) neu gezogen.
Der Beschluss betraf den Fall einer pensionierten Krankenschwester, die ihrem schwerkranken Ehemann im August 2019 auf dessen ausdrückliches Verlangen hin mehrere Insulinspritzen setzte, infolge dessen er verstarb. Der Ehemann, der seit 1993 an einem chronischen Schmerzsyndrom litt und seit 2016 von seiner Frau zu Hause gepflegt wurde, hatte seit Beginn 2019 mehrmals den Wunsch geäußert, sterben zu wollen. Am 7. August litt der Mann laut Beschluss an „schwersten Schmerzen“ und beschloss, seinem Leben ein Ende zu setzen. Dazu bat er seine Frau, ihm alle im Haus verfügbaren Schmerztabletten zu bringen, die er selbstständig einnahm. Um „nicht als Zombie“ zurückzukehren, bat er sie sodann, ihm zusätzlich die Insulinspritzen zu setzen, da ihm selbst dies aufgrund seiner Krankheit schwer fiel. Diese führten letztlich zu seinem Tod, wobei es nach den Sachverhaltsfeststellungen des Gerichts nur vom Zufall abhing, ob zuerst die Schmerztabletten oder die Insulinspritzen ihre todbringende Wirkung entfalteten. Nach dem Setzen der Spritzen hatte der Mann noch die Möglichkeit, seine Frau zum Rufen eines Krankenwagens aufzurufen; stattdessen vergewisserte er sich aber, ob auch wirklich alle verfügbaren Insulinspritzen gesetzt worden waren.
Das LG Stendal hatte die Ehefrau wegen § 216 Abs. 1 StGB verurteilt. Der BGH hat diese Verurteilung aufgehoben. Die Ehefrau habe lediglich Beihilfe zum Suizid geleistet.
Entscheidend für die Täterschaft nach § 216 StGB sei, dass der Täter das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrsche. Behalte der Suizidwillige hingegen bis zuletzt die Entscheidung über sein Schicksal, handele es sich um eine bloße Beihilfe zum Suizid. Dies gelte auch, wenn der zum Tode führende Tatbeitrag von einem anderen gesetzt worden sei (Rn. 14). Der BGH betont, dass die Unterscheidung nicht nur anhand einer „naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen“ werden dürfe, sondern eine „normative Betrachtung“ geboten sei (Rn. 15). Nach der Ansicht des BGH stellten die Einnahme der Tabletten durch den Mann und das Setzen der Insulinspritze durch seine Frau ein einheitliches Geschehen dar, über dessen Ausführung letztlich der Mann alleine bestimmte (Rn. 16). Zudem sei dem Ehemann nach dem Setzen der Spritzen und damit nach dem Abschluss des Tatbeitrags seiner Frau auch noch die Gelegenheit verblieben, Gegenmaßnahmen einzuleiten, indem er beispielsweise nach dem Rufen eines Rettungswagens verlangen hätte können (Rn. 17).
In einem obiter dictum äußerte der BGH zudem Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 216 Abs. 1 StGB im Lichte des Urteils des BverfG zu § 217 StGB. Der Senat halte es für „naheliegend“, dass die Norm einer verfassungskonformen Auslegung bedürfe, „wonach jedenfalls diejenigen Fälle vom Anwendungsbereich der Norm ausgenommen werden, in denen es einer sterbewilligen Person faktisch unmöglich ist, ihre frei von Willensmängeln getroffene Entscheidung selbst umzusetzen, aus dem Leben zu scheiden“ (Rn. 23).
Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte die Entscheidung scharf: Durch die faktische Aufhebung des strafrechtlichen Verbots der Tötung auf Verlangen könne der Druck auf vulnerable Personengruppen steigen.
Das Urteil ist zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen und kann auf der Webseite des BGH abgerufen werden.