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Bundestag verabschiedet Triagegesetz der Bundesregierung mit leichten Änderungen

medstra-News 117/2022 vom 16.11.2022

Nachdem im Vorfeld der Entwurf der Bundesregierung bereits im großen Umfang diskutiert und vornehmlich kritische Stellung bezogen wurde (siehe zu dem geführten Diskurs die medstra News 114/2022; 108/2022; 105/2022; 97/2022; 89/2022; 84/2022; 67/2022; 53/2022; 47/2022) zur BVerfG-Entscheidung als Ausgangspunkt der Debatte siehe 16/2022), hat der Bundestag am 10. November 2022 nach zweiter und dritter Lesung die nicht zustimmungspflichtige Neuregelung der Triage im Infektionsschutzgesetz (BT-Drs. 20/4359) verabschiedet. Bei der finalen Abstimmung konnten 7 Nein-Stimmen sowie 2 Enthaltung aus den Reihen der Koalitionsfraktionen verzeichnet werden. Im Voraus hatten verschiedene Stimmen eine Aufschiebung der Abstimmung für angebracht gesehen, darunter Teile der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR), deren Direktorin Beate Rudolf zudem eine Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang forderte. 

Das „Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“ soll bei zukünftigen Pandemien die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Verknappung lebensnotwendiger medizinischer Versorgung in Notfällen unterbinden. Entscheidend für den Behandlungsumfang ist nunmehr allein die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit der Betroffenen. Andere Kriterien wie Alter, Behinderung oder Gebrechlichkeit dürfen nicht herangezogen werden, sofern sie nicht kurzfristig Einfluss haben. Die Triageentscheidungen selbst müssen unter einem „Mehraugenprinzip“ von zwei erfahrenen Fachärztinnen oder -ärzten der Intensivmedizin unabhängig voneinander getroffen werden. Ist eine Patientin oder ein Patient mit einer Behinderung von der Zuteilungsentscheidung betroffen, muss zudem eine Person mit Fachexpertise hinzugezogen werden, durch deren Einschätzung den besonderen Belangen dieser Patientin oder dieses Patienten Rechnung getragen werden kann. Der Abbruch einer intensivmedizinischen Behandlung zugunsten eines Patienten mit besserer Überlebenschance, die sog. Ex-Post-Triage, wird durch das Gesetz explizit ausgeschlossen. Laut Gesetzesbegründung soll der Abbruch einer intensivmedizinischen Behandlung infolge einer Therapiezieländerung jedoch nicht von dem Ausschluss umfasst sein.

Bereits einen Tag vorher stimmte der Gesundheitsausschuss für das Gesetz, fügte jedoch noch eine letzte Änderung ein. Für jede Zuteilungsentscheidung wurde eine Pflicht der Krankenhäuser zur unverzüglichen Dokumentation und Weiterleitung an die für die Krankenhausplanung zuständige Landesbehörde in die Beschlussvorlage integriert. Weiter ist nunmehr eine Evaluation der Neuregelung durch das Bundesministerium für Gesundheit innerhalb von sechs Monaten nach der ersten Zuteilungsentscheidung oder spätestens bis zum 31. Dezember 2025 vorgesehen. Durch einen dritten Änderungsantrag wurde darüber hinaus konkretisiert, wann überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten in einem Krankenhaus als nicht vorhanden gelten. Der „überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungsbedarf“ darf nicht mehr von den vorhandenen „überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“ gedeckt sein. Gleichzeitig muss vor der Zuteilungsentscheidung überprüft werden, dass eine anderweitige intensivmedizinische Behandlung der betroffenen Patienten, z.B. durch eine Verlegung in andere Krankenhäuser, nicht möglich ist. 

Die Bundestagsentscheidung zur Triage stieß auf gegensätzliche Reaktionen. Vor allem Vertreter der Ärzteschaft, u.a. die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sowie die Bundesärztekammer (BÄK), kritisierten das Verbot der Ex-Post-Triage. Mit dem Ausschluss sei keine juristische Sicherheit vor Strafbarkeitsrisiken der entscheidenden Ärztinnen und Ärzte gegeben und verursache in einer erheblichen Krisenlage Handlungsunfähigkeit. Vorstandsmitglied des Marburger Bund Bayerns Florian Gerheuser bezeichnete die Entscheidung des Bundestags sogar als eklatanten Fehler, nachdem erste wissenschaftliche Simulationsdaten nahelegen würden, dass das Gesetz „in der beschlossenen Form die Zahl der vermeidbaren Todesfälle [vor allem in den besonders gefährdeten Gruppen] steigern würde“, sobald Intensivbetten durch Personen belegt bleiben, die ohnehin eine kaum bestehende Überlebenschance aufweisen. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, erklärte, dass für die Zuteilungsentscheidungen neben der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit immer auch die ärztliche Indikation und der Patientenwille Beachtung finden sollten. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gab hingegen an, dass er eine Ex-Post-Triage für unethisch halte und die Regierung an Krankenhausreformplänen arbeite, mit denen man in zukünftigen Pandemien entsprechende intensivmedizinische Kapazitäten gewährleisten könne, damit Zuteilungsentscheidungen gar nicht von Nöten werden. Die schnelle Evaluation des Gesetzes wurde indes von der BÄK als positiv bewertet.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz Eugen Brysch hingegen begrüßte das Gesetz in seiner Stellungnahme. Der Patientenvertreter warnte aber ebenfalls vor weiterhin „in der Realität“ bestehenden Benachteiligungsrisiken für alte, mehrfach kranke und behinderte Patienten. Hubert Hüppe von der CDU sowie Sören Pellmann von der Linken kritisierten, dass Behindertenverbände im Rahmen des Gesetzgebungsprozess nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Hüppe erklärte zudem, dass es verpasst worden sei, Triagebestimmungen auch für Naturkatastrophen, Terror und im Kriegsfall zu regeln. Zudem seien Sanktionsmöglichkeiten innerhalb des Gesetzes bei Nichtbeachtung der Regelungen wünschenswert gewesen.


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